Im ersten Artikel unserer Blog-Reihe über Verhandlung haben wir über die wettkampforientierte Verhandlung gesprochen. Hier haben wir gelernt, das der Wunsch nach Sieg und Dominanz oftmals nicht zielführend ist und zu keinen guten Ergebnissen führt.
Das Gegenstück zu diesem Verhandlungsstil ist die beziehungsorientierte Verhandlung. An die Stelle des Kräfte messenden, in gegenseitigem Wettbewerb stehenden Verhaltens, tritt in dieser Art der Verhandlung nun ein auf den Menschen und die Beziehung gerichtetes Verhalten, das die Positionen und Interessen des Gegenübers in gleicher Weise würdigt wie die eigenen. Konflikte, egal ob in der Sache oder zwischen den Personen, werden möglichst in gegenseitigem Respekt verhandelt. Der Fokus wird auf die gute Zusammenarbeit gelegt. Das heißt: Die Verhandlerin hat vor allem den Erhalt einer guten und langfristigen Beziehung im Blick und macht dafür gegebenenfalls Zugeständnisse bei der verhandelten Sache. Die Verhandlung wird insgesamt »weicher« und vorsichtiger geführt, um die langfristigen Folgen einer beschädigten Beziehung zu vermeiden.
Verhandlung über das Schicksal einer Nation
Auch diesen Verhandlungsfall will ich Ihnen anhand einer historischen Situation verbildlichen. Viele werden sich noch persönlich an dieses Ereignis erinnern, manche vielleicht bereits nur durch die Vermittlung ihrer Eltern oder der Schule: Die Deutsche Wiedervereinigung von 1990. Während der zahlreichen Einzelverhandlungen über die verschiedenen Verträge zur deutschen Einheit wurden verschiedenste Verhandlungstechniken und -Stile von verschiedensten Interessengruppen eingesetzt. So führten nicht nur die beiden deutschen Staaten, sondern außerdem die vier Siegermächte Frankreich, Großbritannien, vor allem aber Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika intensive Verhandlungen über das Schicksal eines wiedervereinigten Deutschlands. Es wäre also wohl etwas naiv, zu behaupten, dass allen Parteien nur Deutschlands Interessen und nicht auch ihre eigenen im Sinn hatten. Manche Kritiker gehen sogar soweit, zu sagen, die Einheit sei teuer »erkauft« worden, da Deutschland und die Sowjetunion sich schließlich auf eine Zahlung von mehreren Milliarden D-Mark an die Sowjetunion einigten. Nennen Sie mich ruhig gutgläubig, aber ich bin der Überzeugung, dass diese friedliche Einigung (eine Revolution ohne auch nur einen abgefeuerten Schuss) nicht zuletzt dadurch gelingen konnte, dass zum einen die Ostdeutschen standhaft Ihre Souveränität forderten, zum anderen die politischen Spitzen in ihren Verhandlungen die langfristige und friedliche Einigung einem vorrangigen und eigennützigen Sieg vorzogen.
Die neue gute Beziehung der Staaten wurde visuell auch von der Beziehung ihrer Repräsentanten zueinander symbolisiert: Als Helmut Kohl und Michail Gorbatschow sich, statt in Anzug und Krawatte, im Juli 1990 in Strickjacke und Wollpullover im Nordkaukasus trafen, gingen diese Bilder um die Welt. Gelöst und informell wirkte die Atmosphäre auf den wenigen offiziellen Fotos, fast familiär die Stimmung zwischen den beiden. Eines dieser Fotos zeigt beide an einem massiven Holztisch auf Baumstümpfen sitzend, wo sie, nach Kohls Aussagen, »über Gott und die Welt« redeten. Dies entsprach dem Stil und Selbstbild Helmut Kohls, der bekannt dafür war, bei politischen Treffen die Staatsgeschäfte auch mal beiseite zu lassen, um auf der persönlichen Ebene Vertrauen aufzubauen und persönliche Gespräch zu führen. Ihm war es wichtig, als Mensch verstanden zu werden und er motivierte sein Gegenüber oft, auf dieselbe Weise zu handeln.
Wahres Interesse oder Schauspiel?
War das »Strickjackentreffen« eine Inszenierung? Natürlich! Vieles war bereits in seinem Vorfeld fertig verhandelt und noch am selben Abend kam es hinter verschlossenen Türen zu einer recht harten, vielleicht sogar wettkämpferischen Verhandlung um die Höhe der oben bereits genannten Zahlung Deutschlands als finanzielle Hilfe für den sowjetischen Truppenabzug. Trotzdem sendete das von Gorbatschow spontan vorgeschlagene Schauspiel eine Botschaft: Es geht hier um Menschen und Nähe und weniger um Staatsmänner und ihre Interessen. Gorbatschow sagte über Helmut Kohl: »Manchmal hatten wir uns hart gestritten, fanden allerdings Lösungen, die dem objektiven Geschichtsverlauf der Deutschen entsprachen.«
Neben all den individuellen Interessen der verschiedenen Nationen standen dennoch das Gemeinwohl, der Frieden und die Souveränität der Menschen in Deutschland im Fokus der Verhandlungen. Sie stellen eine Sternstunde der internationalen Diplomatie dar, die nicht wie der Prager Frühling zweiundzwanzig Jahre zuvor in Waffengewalt und Blutvergießen endete, sondern auf eine zukünftige Beziehung und gute Partnerschaft ausgelegt war. Der damalige Präsident der USA, Georg Bush Senior, sagte 10 Jahre nach dem Mauerfall am 9. November 1999 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag: »Der Grund dafür, dass sich die Dinge so entwickelten, der Grund, aus dem das Ringen der Supermächte buchstäblich ohne Schuss zu Ende ging, der Grund, aus dem die Mauer fiel und Deutschland in Frieden und Demokratie vereinigt wurde, lag zum großen Teil darin, dass die Handelnden sich kannten und dass wir drei [Gorbatschow, Bush und Kohl] uns gegenseitig respektierten.«
Was wir dadurch über Verhandlung lernen können
Für den Vertrieb können wir auch aus diesem historischen Beispiel einiges lernen. Allerdings ist in diesem Bereich die Aussage der Verhandelnden, dass man eine langfristige Beziehung anstrebe, oft nur ein bloßer Vorwand, nur – anders als im historischen Beispiel – ein gängiger Trick der einkaufenden Partei, um den Preis zu reduzieren oder den Leistungsumfang zu erhöhen. Das wird sozusagen als Bedingung dafür gestellt, dass eine solche lange Beziehung überhaupt in Frage kommen kann. Den Wert der Beziehung auf diese Weise einzusetzen, ist natürlich eine Falle. Sie können diese Falle leicht erkennen, wenn Ihnen in der Verhandlung eine Person gegenübersitzt, zu der Sie noch keine Beziehung aufgebaut haben und diese Person versucht, eine Beziehung (in der Zukunft) zur Verhandlungsmasse zu machen. Lassen Sie sich darauf nicht ein. Sollten Sie mit Personen verhandeln, mit denen Sie im bisherigen Geschäftsprozess bereits eine Beziehung aufbauen konnten, ist es unwahrscheinlich, dass der beziehungsorientierten Verhandlungsstil als Trick eingesetzt wird.
Was Sie beachten sollten, ist, dass auch eine beziehungsorientierte Verhandlung nicht unbedingt in Harmonie endet. Sie haben es ja im obigen Beispiel gesehen: Selbst Kohl und Gorbatschow haben sich nach Ihrem harmonischen Strickjackentreffen noch einmal ordentlich in die Haare gekriegt. Wenn in der Sache ein Konflikt besteht, erfordert dieser Konflikt eben manchmal eine gewisse Härte. Wichtig ist dabei, dass beide Parteien die gegenwärtige und zukünftige gute Beziehung nicht aus den Augen verlieren oder gefährden, sondern auf lange Sicht gesehen den gemeinsamen Erfolg suchen. Vielleicht lässt sich das mit der Beziehung von Freunden vergleichen; die Beziehung ist etabliert und hat sich bewährt und so können auch Meinungsverschiedenheiten in der Sache zwar zu einem Streit, nicht aber zum Bruch der Beziehung führen.
Es gibt einen Haken…
Ein Problem bei beziehungsorientierten Verhandlungen ist, dass sie schnell in eine Wettkampforientierung kippen können, wenn etwa neue Personen in die Verhandlung eingeführt werden, die die beziehungsorientierte Art der Verhandlung nicht bevorzugen und deren Regeln nicht beachten. Es ist also gut möglich, dass durch einen Austausch der Verhandler diese Verhandlungsart scheitert. Das kann auch passieren, wenn einer der Verhandler den Modus der Beziehungsorientierung einfach aufkündigt. Diese für viele überraschende Aufkündigung begegnet uns in den letzten Jahren zunehmend im Bereich der Politik oder in diplomatischen Beziehungen zwischen Staaten. Verträge, die von einer vorhergehenden Regierung mit anderen Staaten geschlossen wurden, werden erst einmal komplett aufgekündigt, um sie dann von Grund auf neu zu verhandeln. Beziehungsorientierte Verhandlungen, wie wir sie aus dem obigen Beispiel kennen, müssen dann oft Verhandlungen im Wettkampfmodus weichen, wie sie etwa der von 2017–2021 amtierende US-Präsident bevorzugte.
Meiner Meinung nach hat Kontinuität, Vertrauen und Verlässlichkeit eine hohe Wichtigkeit für gute Verhandlungen. Sich auf die guten Beziehungen zu Menschen zu verlassen, birgt allerdings auch ein Risiko, auf das Sie vorbereitet sein sollten. Es kann immer passieren, dass Sie statt einem Typ Gorbatschow eben plötzlich einem Typ Trump gegenübersitzen.