Folge 24: Prof. Dr. Christian Rieck: Spieltheorie und Ethik im Vertrieb

Folge 24: Prof. Dr. Christian Rieck: Spieltheorie und Ethik im Vertrieb

In dieser Folge sprechen Pritu Detemple und Prof. Dr. Christian Rieck darüber, wie man im Vertrieb und Verkauf erfolgreich sein kann, ohne auf List und Manipulation zurückzugreifen. Lerne, wie du nachhaltige Verkaufsstrategien entwickelst, die richtigen Regeln und Ziele setzt, um dauerhaften Erfolg und Umsatzwachstum zu erzielen.

Transkription

Folge 24: Prof. Dr. Christian Rieck: Spieltheorie und Ethik im Vertrieb

Pritu Daniel Detemple: Hi, wann wurdest du das letzte Mal getäuscht? Wann wurdest du das letzte Mal so richtig abgezockt? Wann hat dir jemand mal etwas versprochen? Aber was du bekommen hast, entsprach nicht den vereinbarten Bedingungen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Situation durch einen Verkäufer oder eine Verkäuferin im Rahmen eines Vertriebsprozesses initiiert wurde. Doch woran liegt das? Warum gehen diese Menschen nicht einer nachhaltigen Strategie nach? Warum täuschen Sie, betrügen Sie und manipulieren Sie? Ist es so, dass diese Verkäufer und Verkäuferinnen an sich böse sind und das Lieben, Menschen zu manipulieren?

Du merkst, diese Fragen gehen über den Vertrieb hinaus. Und damit befasst sich zum Beispiel die Philosophie und die Ethik, nämlich die Frage der Moral. Bei der Entwicklung oder Modellierung von Strategien sowie dem Verständnis der Interessen und Verhaltensweisen der Menschen spielt die Spieltheorie eine entscheidende Rolle. Sie bietet uns wichtige Impulse in diesen Bereichen.

Begrüßung: Prof. Dr. Christian Rieck

Diesbezüglich heißt es heute in dieser Folge: Gewinnen ohne zu täuschen. Ethik und Spieltheorie im Vertrieb. Mein heutiger Gast mag keine Iphones. Er hat seines dorthin geschickt, wo es nach seiner Meinung hingehört, nämlich zurück in die Hölle. Er ist ein passionierter Motorradfahrer, Zukunftsforscher, Keynote Speaker, Buchautor, Forscher, Provokateur. Und nebenbei Professor für Finance und Wirtschaftstheorie an der Frankfurt University of Applied Sciences. Ich weiß das alles aufgrund seines sehr erfolgreichen YouTube-Kanals, der heute 350.000 Abonnenten hat und Menschen anspricht, die gerne nachdenken und sich mit Spieltheorie und allem, was dazugehört, beschäftigen. Denn er ist neben all dem, was ich gesagt habe, auch noch Deutschlands bekanntester Spieltheoretiker. Willkommen, Prof. Dr. Christian Rieck!

Prof. Dr. Christian Rieck: Hallo, vielen Dank für die Einladung.

Was hilft am besten gegen Rasurbrand?

Pritu Daniel Detemple: Prof. Dr. Rieck Ich habe jetzt ein bisschen Honey gemacht über Sie. Jetzt falle ich wahrscheinlich gleich wieder in Ungnade, denn ich habe eine Frage jetzt als Einstiegsfrage vorbereitet, die man natürlich einfach einem Spieltheoretiker stellen muss. Prof. Dr. Rieck, was hilft denn am besten gegen Rasurbrand?

Prof. Dr. Christian Rieck: Das, glaube ich, verfolgt mich, oder? Seit das einer mal, in Wikipedia reingeschrieben hat, dass ich dieses Buch übers Rasieren auch geschrieben habe, werde ich solche Sachen häufiger mal gefragt. Ja, also Rasurbrand, ich würde vorschlagen, Sie lassen es erst gar nicht dazu kommen. Sie machen das gleich so, dass Sie es vorher schon richtig machen, dass Sie eine Möglichkeit, sowas gar nicht erst kriegen. Und wenn ich das mal zusammenfassen soll, zu einem einzigen Ratschlag, also eigentlich habe ich das auch 400 Seiten ausgebreitet, aber fassen wir das 400 Seiten Buch zusammen zu einem einzigen Ratschlag.

Drücken Sie denn rasieren nur so fest auf, wie Sie es mit einer Feder machen würden, und dann wird es ungefähr richtig. Übrigens dieses Rasier Buch. Das ist entstanden daraus, dass ich mal wissenschaftliches Arbeiten unterrichtet habe. Das hab ich längere Zeit gemacht, und ich habe dann einfach nach Themen gesucht, bei denen ich das Gefühl hatte, da sind die Themen nicht so ablenkend, sondern ich muss ein Thema finden, wo es klar ist, dass es auf die Methode ankommt. Und da haben wir ganz viele solche Untersuchungen zum Rasieren gemacht, und nach einiger Zeit weiß man dann einfach jede Menge Dinge, die vorher nie untersucht worden sind, weil niemand die die Energie darauf verwenden wollte, sowas zu machen. Und daraus entsteht dann eben so was, dass ich gesagt habe, es muss ja irgendwo mal ein Buch darüber schreiben.

Definition: Spieltheorie

Pritu Daniel Detemple: Man merkt auch anhand Ihrer YouTube-Videos, dass Ihre Interessenslage da sehr breit gefächert ist. Ich glaube, es hat immer so eine wissenschaftliche Grundlage, die ist immer da. Aber dann wird doch sehr universell drauf geschaut. Und das ist ja etwas, was gerade die Spieltheorie auch mit sich bringt, als universelle Wissenschaft. Also auch da vielleicht ähnlich wie die Philosophie. Sie ist auch eine universelle Wissenschaft, kann man halt einfach viele Anwendungsgebiete dafür finden. Also nicht nur für die Mathematik, wo es ja ursprünglich vielleicht auch herkam, aber auch für die Politik, für die Wirtschaftswissenschaften, für alle anderen Disziplin. Das ist sehr, sehr interessant. Und deswegen möchten wir denn heute über die Spieltheorie im Vertrieb auch sprechen. Als Philosoph beginne ich immer gerne mit Definitionen. Was ist denn eigentlich Spieltheorie? Was versteht man darunter, und wie hat man Spieltheorie sich vorzustellen?

Prof. Dr. Christian Rieck: Also das erste, was man wissen muss, ist: Das ist keineswegs so spielerisch, wie man erst mal denkt. Also, es hat ja immer diese Assoziation mit spielen und so, und da ist es auch mal ursprünglich von hier abgeleitet. Aber es ist eigentlich nur ursprünglich mathematische Theorie, in der Form wir Sie jetzt kennen. Sie beschäftigt sich mit bestimmten Entscheidungssituationen, nämlich Entscheidungssituationen, die ähnlich sind, wie wir es in strategischen Spielen erkennen, dass mehrere Spiele eigene Interessen verfolgen, jeweils für sich vernunftbegabt sind und alle gemeinsam das Endergebnis bestimmen können.

Pritu Daniel Detemple: Wenn wir uns nun die Vertriebsprozesse anschauen, welchen genauen Vorteil bietet es, einen Vertriebsprozess spieltheoretisch zu modellieren? Wie geht man da genau vor?

Prof. Dr. Christian Rieck: Sie müssen die Sachen mehr oder weniger systematisch nacheinander durchgehen. Sie müssen sich eben angucken, welche Elemente haben Sie da und wie können diese Elemente zusammengesetzt werden. Am Ende läuft eigentlich mal wieder auf die gleiche Frage hinaus: Wer hat welche Interessen? Sie müssen sich auch fragen, was wollen Sie eigentlich damit erreichen. In vielen Fällen wollen Sie eigentlich erst mal erreichen, dass Sie eine Situation verstehen.

Es gibt andere Situationen, da wollen Sie einen bestimmte Regeln schaffen. Also manchmal wollen Sie regeln schaffen bei denen, die besonders gut miteinander kooperieren können. Aber oft ist die Aufgabe in Wahrheit, regeln zu schaffen und sich zu überlegen, wie kann ich eine Situation so aufbauen, so gestalten, dass die Teilnehmer in meinem Sinne handeln ist. Das heißt also, die Spieltheorie ist in solchen Situationen eigentlich hauptsächlich dafür da, dass Sie etwas, was Sie vorher als eine Blackbox wahrgenommen haben, jetzt aufklappen können und reingucken können, was ist da alles drin in dieser Blackbox? Welche Rädchen gibt’s denn da? Und dann vielleicht, nachdem Sie verstanden haben, welche Rädchen da sind, vielleicht auch besser verstehen, welche Rädchen Sie denn umstecken können, damit was schöneres rauskommt.

Von Kooperation zu Konfrontation: Ein Vertriebsszenario zwischen Käufer und Verkäufer

Pritu Daniel Detemple: Okay, dann gestalten wir doch mal so ein Szenario für den Vertrieb, für so einen Vertriebsprozess. Wir haben zwei Spieler: Käufer und Verkäufer. Alles dreht sich um eine Leistung, zum Beispiel um ein Produkt. Beide sind, wie Sie ja sagt, was wichtig ist, entscheidungsfähig. Der eine kann das Produkt kaufen, der andere kann es verkaufen. Und beide haben darauf hingewiesen, eigene Interessen. Das Interessante daran ist, diese eigene Interessen sind in einem bestimmten Schritt oder in bestimmten Schritten ähnlich beziehungsweise sogar gleich. Der Verkäufer möchte am Anfang zumindest im Interesse des Kunden arbeiten.

Das ist das, was wir bei GO FOR SALES immer lehren: Im Interesse des Kunden zu arbeiten, also zu antizipieren. Was möchte denn eigentlich mein Kunde? Das heißt, die Interessenslage ist sehr, sehr kooperativ in diesem Moment. Dann, aber zu einem bestimmten Schritt, verändert sich das dann wieder, also spätestens beim Thema Verhandlung. Dann werden die Interessen plötzlich unterschiedlich. Der Käufer möchte das Produkt zum Beispiel, was Preisverhandlungen angeht, so günstig wie möglich kaufen, und der Verkäufer möchte es so teuer wie möglich verkaufen. Das heißt, man geht so ein bisschen von dieser Kooperation in diesem Moment weg, und es wird eher konfrontativ in diesem Moment. Würden Sie sagen, dass dieses Szenario spieltheoretisch modellierbar ist?

Prof. Dr. Christian Rieck: Ja, klar, was Sie hier beschreiben, ist ja eigentlich der Standardfall von Spielen. Die Idee ist immer, dadurch, dass die was zusammen machen, haben Sie erst mal was Sie verteilen können, backen sozusagen gemeinsam einen Kuchen. Und dann es an die Aufteilung geht dann auf einmal wird zum Nullsummenspiel, weil der Kuchen eben so groß ist, wie jetzt nochmal geworden ist. Das ist also völlig normaler Zustand, dass zwei oder auch mehr Parteien gemeinsam überhaupt erst mal irgendetwas erschaffen und dann aber einen Interessenskonflikt bei der Aufteilung haben. Ganz normaler Fall.

Pritu Daniel Detemple: Genau und um an dieses Ziel zu kommen und das richtige Ziel zu kommen beziehungsweise die eigenen Interessen auch durchzusetzen, brauche ich eine Strategie. Das ist auch das, was wir oft angefragt werden von der GO FOR SALES, dass man halt eine Strategie, zum Beispiel eine Kommunikationsstrategie, halt entwickeln soll. Ich weiß aus dem Markt heraus, dass viele da allerdings unter Strategie was anderes verstehen, als tatsächlich gemeint ist. Deswegen meine bitte an Sie, definieren Sie doch mal spieltheoretisch „die Strategie„. Was bedeutet das? Und ich weiß auch aus YouTube Videos, dass Sie da auch eine gewisse Problematik darin sehen. Vielleicht können Sie das ganz kurz erläutern?

Prof. Dr. Christian Rieck: Also erst mal: Strategie ist ein sehr schwieriger Begriff. Also nicht, weil es schwer zu definieren wäre, sondern weil es sehr schwierig ist, für reale Situation Strategien aufzustellen. Die Definition ist eigentlich sehr einfach, ist es einfach ein vollständiger Verhaltensplan. Also wenn Sie einen Plan haben für jede Situation, die sie kommen können, dann haben Sie eine Strategie. Die spieltheoretische Strategie geht sogar noch einen Schritt weiter. Die verlangt sogar von ihnen, dass Sie einen Plan haben für die Fälle, die durch ihre eigene Strategie ausgeschlossen sind. Also das, was Sie eigentlich theoretisch erreichen könnten, wenn etwas anderes passieren würde als das, was Sie eigentlich machen.

Und die Idee dahinter ist, dass Sie in jedem Einzelfall möglicherweise etwas umsetzen wollten. Dieser einzelne Umsetzungsschritt bezeichnet man als Zug, dass Sie also einen Zug machen wollen. Dieser Zug aber aus irgendwelchen Gründen schief geht. Dann landen Sie plötzlich irgendwo, wo Sie gar nicht hin wollten, was Sie eigentlich ausschließen wollten, und selbst dafür brauchen Sie Eventualpläne. Das heißt also, dieser Plan, die wir haben, diese vollständige Verhaltensplan, ist was sehr umfangreiches. Und er sieht, wie gesagt, für alle möglichen Situationen etwas vor, und es geht viel weiter als das, was wir im Alltag uns unter einer Strategie vorstellen.

Also selbst Leute, die sehr strategisch denken im Alltag, denken immer in sogenannten verkürzten Strategien. Die stellen sich einen kleinen Teil davon vor und schneiden ein Großteil des gesamten, also Strategie Baums ab, um dann in diesem verkürzten Teil zu sagen:

„Das ist das, was wir eigentlich erreichen wollen.“

Und rechts und links, da könnte schon irgendwas passieren, aber das überlegen wir uns dann. Das ist so ein bisschen die Einstellung, die dahinter steht, und das würde eben nicht funktionieren bei einer spieltheoretischen Strategie.

Pritu Daniel Detemple: Ich denke, es ist wichtig dazu wissen, dass die Spieltheorie eben ein extrem konstrukt ist. Sie ist nicht wirklich mit der realen Welt vereinbar. Also in einem abgeschlossenen Rahmen ja. Aber die Welt ist einfach sehr, sehr komplex, und es gibt sehr, sehr viele Abzweigung. Nicht das trotz hilft sie, denke ich, um diesen Vollständigkeitsanspruch wenigstens zu setzen oder wenigstens anzudenken, den Limes Richtung Vollständigkeit zu setzen, auch wenn man ihn nie erreichen kann. Weil was dann passiert, ist, dass man auf jeden Fall mehr erdenkt, als man vielleicht im Vorfeld hatte. Also nicht beim ersten Zug, wie Sie es genannt haben, also dieses Atom, diese kleinste Einheit, die kleinste Entscheidung, die kleinste Handlung dahinter, halt eben nicht dann direkt schon orientierungslos zu sein und quasi nicht mehr zu wissen, was man in dem Moment tut.

So ist es auch, wenn wir Kommunikationsstrategien halt aufbauen. Da sind dann doch die Kunden immer sehr überrascht, wie viele Abzweigungen es gibt und wie viele Möglichkeiten es gibt, von einer Weiche ausgesehen hat, in andere Fälle halt zu kommen, und wie komplex das ist. Gleichzeitig denke ich allerdings, dass auch dies ein großes Problem darstellt, diese Komplexität, auch wenn sie, wie Sie es ja gerade gesagt haben Herr Rieck, verkürzt ist. Es ist immer verkürzt. Was wir Menschen machen, ist immer verkürzt. Es geht gar nicht anders, weil es Menschen machen. Aber in dem Moment, obwohl es verkürzt ist, ist es trotzdem komplex. Und diese Komplexität, die schreckt viele Menschen – gerade im Vertrieb – ab.

Das führt dazu, dass Sie Abkürzungen haben möchten – also keine normalen „wenn-dann“-Situationen. Diese, „wenn-dann„-Situationen in hundertfacher Möglichkeit, was kann alles dann passieren, sondern quasi so ein Rezept, eine Sache, die immer funktioniert. Und da sind wir dann eben nicht mehr bei der Strategie. Das ist dann das, was auch wir halt List nennen oder eine Form von Täuschung. Als man erst sucht, etwas schnell zu jemanden zu übertölpeln oder oder zu überraschen, in der Form, dass derjenige anders reagiert oder in unserem Sinne reagiert, aber nicht in dem Sinne reagiert, wie die Person dann eigentlich reagieren sollte. Und davon gibt es leider leider in unserer Branche sehr viele sogenannten Coaches, die Sie selbst Coaches nennen oder Verkaufsberater, die solche Abkürzung sozusagen im Angebot haben und sagen:

„Hey, du brauchst keine vollständigen Verhaltensplan, benutzt diese zwei Tricks hier, und das wird halt immer funktionieren.“

Der Zusammenhang zwischen einer Tippliste und einer Strategie

Da kommt diese List ins Spiel , und die Hörerinnen und Hörer des Podcasts wissen ja, wie sehr wir GO FOR SALES gegen solche Tricks, Tipps wie „zehn Tricks, um den Verkauf zu schaffen“ angehen. Gleichzeitig möchte ich kurz erwähnen, woher das eigentlich kommt. Es kommt daher, dass Menschen im Vertrieb zu wenig Zeit haben und diese zu wenig Zeit kommt aus dem Provisionsdenken. Weil ich schnell etwas verkaufen muss, weil umso schneller und umso mehr ich verkaufe, umso mehr Provision erwirtschafte ich. Deshalb möchte ich meine Zeit knapp halten und genau das ist ja das, was eine Strategie – um die erst mal aufzusetzen und vor allem sich dran zu halten – nicht immer schafft.

Langfristig wird man wahrscheinlich dort halt mehr Erfolg haben. Aber kurzfristig ist so eine Strategie im Grunde so eine Art Hindernis. Das kostet mich nur Zeit. Es schafft dazu, dass ich weniger verkaufe, weil die Strategie muss erst aufgesetzt werden, und ich muss mich auch dran halten. Und eine schnelle List verspricht so vordergründig, dass es möglicherweise schneller geht und dass man halt mehr Umsatz in kürzerer Zeit macht. Genau das ist also der Hintergrund, warum diese List und die Tipps und Tricks so attraktiv sind und warum so viele Menschen leider darauf auch reinfallen. Wie sehen Sie diesen Zusammenhang von List und Strategie?

Prof. Dr. Christian Rieck: Diese schnelle List, das ist in der Tat keine Strategie, sondern das ist eine Strategie. Also, Strategie ist das Wort für Kriegslist. Das heißt, da versucht einer den anderen zu übertölpeln, uns mal einfach zu sagen. Also normalerweise funktioniert eine List so, dass Sie beim anderen Eindruck erwecken wollen, der aber in Wahrheit falsch ist. Und damit versuchen Sie, den anderen zu einer falschen Verhaltensweise zu verleiten. Und das ist seltsamerweise eine Situation, die es in der klassischen Spieltheorie so gar nicht geben kann. Weil nämlich die klassische Spieltheorie immer davon ausgeht, dass sie es mit vollständig rationalen Entscheidern zu tun haben.

Also Sie werden gemerkt haben, ich spreche immer von vernunftbegabten. Das sind welche, die wollen zwar rational sein, schaffen das aber meistens nicht so ganz. Aber der vollständig rationale Entscheider. Dem kann es natürlich nicht passieren, dass er überlistet wird, weil der hier alle möglichen List Möglichkeiten bereits schon im Kopf durchgedacht hat. Das ist ja die Idee der Strategie, die dahinter ist und für alles die optimale Antwort weiß. Und infolgedessen können wir dort nur in Gleichgewichten denken, nie in Überlistung. Und jetzt merken Sie schon, dass es der Teil, der eben in der echten Welt überhaupt nicht passt. Da kann es durchaus so sein, dass der eine ein unvernünftiges Verhalten der anderen Seite ausnutzt, also provoziert und dann ausnutzt.

Das ist so eine ganz eigene Kunst. Also, wir sprechen da gerne von Strategien, die aus China rübergeschwappt sind, muss man sagen. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir so einen gewissen Hang haben, so weiß ich so, was irgendwie aus China kommt und so Zen-Zeug und so. Das finden wir so ganz toll, und deshalb spricht uns das vielleicht stärker an, wenn die Strategie wir jetzt als chinesische Weisheiten dargestellt werden. Die gibt’s in unserer Kultur genauso. Also, Sie müssen sich überlegen, diese ganzen Strategien, die also von China aus kommt, beschrieben werden, die finden Sie in der europäischen Literatur eins zu eins ebenfalls. Und es liegt einfach daran, dass Sie natürlich typischerweise angewandt werden. Also nehmen Sie mal so ein ganz einfacher Strategien, was fast der Grundtyp der Strategien ist.

Das heißt: im Osten lernen, im Westen angreifen. Das heißt also, Sie wollen einen Feind angreifen und tun so, als würden Sie von der einen Seite kommen, machen da Riesenlärm, und in Wahrheit kommen Sie von der anderen. Das ist natürlich eine Geschichte. Das ist, im echten Leben finden Sie das immer wieder, dass an irgendeiner Stelle gelernt wird, der anderen läuft die eigentliche Musik. Da merken Sie, dass es ein so elementarer Grundtyp von Strategien, von Kriegslist, dass man also, dass Sie es überall finden werden, natürlicherweise. Aber wie gesagt, deshalb sprechen wir gerne von den 36 Strategien. Also, die meisten, wenn Sie das Wort Strategie nennen, werden wahrscheinlich sagen: „Ah, die 36 Strategien.“ Aber es gibt natürlich mehr Strategien, und die kommen auch nicht nur aus China.

Pritu Daniel Detemple: Ja, gleichzeitig haben Sie ja trotzdem auch diese 36 Strategien auch selbst nochmal zusammengefasst in „Die 36 Strategeme der Krise„. Übrigens, ein sehr empfehlenswertes Buch von Ihnen, weil es natürlich sehr kompakt ist und durch die Einteilung der verschiedenen Strategien auch episodisch lesbar ist. Also, es passt auf jeden Fall zu meinem Leseverhalten sehr gut, weil man immer abgeschlossene Denkanstöße hat. Deswegen sehr empfehlenswert. Was ist denn Ihre persönliche Lieblingsstrategie?

Prof. Dr. Christian Rieck: Das ist das Strategie eins. Schade, dass gleich ganz vorne steht, aber das finde ich eine vollkommen spannende Geschichte.

Also das handelt von so einem Kaiser, der mit seiner großen Flotte übers Meer segeln wollte und sich aber nie getraut hat. Seine Generale wollten jetzt einfach gerne losfahren, und dann haben wir den irgendwie auf dem Schiff draufgelockt und haben gesagt, das ist gar keine Schau, also die haben gar nicht davon gesprochen, dass es ein Schiff ist, sondern haben gesagt, wir gucken uns hier nochmal ein paar Sachen an, wie wir das alles besser ausrüsten können und sowas. Aber es war halt ein Schiff. Und als der Kaiser dann also glücklich und einigermaßen betrunken da lag, sind die mit der Flotte losgefahren. Also als er am nächsten Tag aufgewacht ist, waren sie schon mitten über auf Meer.

Und das ist eine Geschichte, die in unterschiedlichster Weise interpretiert werden kann. Also manchmal ist es eben diese Geschichte, dass man jemanden gewissermaßen übertölpelt. Das ist das, was wir gerade hatten, die naheliegendste Sache. Manchmal ist es aber auch, dass man graduell in eine Situation hineinrutscht und gar nicht merkt, dass man immer tiefer reingerutscht worden ist. Manchmal ist es auch, dass eine Situation immer wieder herbeigeführt wird. Also dieser Kaiser, der wurde immer wieder alle möglichen Ausrüstungsgegenstände rangeführt, und so eines war das Schiff, und das hat er gar nicht mehr gemerkt. Das man also die andere Seite zu gewissem Grad abstumpft und weil Sie abgestumpft ist, dann auf einmal etwas mit der anderen Seite machen kann, was man sonst nicht hätte machen können.

Also, das ist ein sehr vielschichtiges Strategien, das ist oft so bei diesen Strategien. Ja, dass nicht nur eine Interpretation dahinter ist, sondern es ist eigentlich eine Strategie, und die steht stellvertretend für jede Menge verschiedene Typen von Listen. So ist es auch hier, und das finde ich zum einen in vielen Dimensionen schillernde Strategien, aber eines, was ich auch besonders spannend finde durch dieses leicht in etwas Reinrutschen, durch dieses Abstumpfen. Ja ist es eins, was unglaublich oft auch auftaucht. Also, Sie müssen mal drauf achten. Ganz viele Situationen, die sich auf eine bestimmte Weise entwickeln, sind eigentlich so aufgebaut, dass Sie plötzlich was reingeraten sind und es gar nicht richtig gemerkt haben, dass Sie da drin sind. Und davon handelt eben diese Strategie. Das ist eindeutig meine Liebling Strategie.

Die Foot-in-the-door-Technik

Pritu Daniel Detemple: Ja, ich habe hier sogar ein ein Beispiel aus dem Vertrieb dafür. Also wo so etwas Ähnliches stattfindet. Nämlich bei der sogenannten „Foot-in-the-door Technik.“ Ja, das ist eine Technik, also sträuben sich mir schon die Haare, wenn man das Technik nennt. Weil es ist eigentlich eher Betrug. Es müsste eher „Foot-in-the-door Fraud“ heißen. Aber wie dem auch sei, es handelt sich um eine Methode oder Technik aus den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Da war die hoch Zeit, wird aber heute immer noch sehr, sehr stark benutzt. Sie kommt aber ursprünglich aus diesem Vertreter Business, also Stichwort Staubsaugervertreter.

Also bildlich kann man sich vorstellen, man stellt seinen Fuß in die Tür, da kommt das ursprünglich her. Und sie besagt, dass man sich vor einem potenziellen Käufer stellt und sich erst mal als „Nicht Verkäufer“ vorstellt. Also, man tritt als Nichtverkäufer auf, vielleicht besser formuliert. So die Person, der potenzielle Käufer, weiß nicht, dass ihr oder ihm gerade etwas verkauft werden soll. Und dieser getarnte Nichtverkäufer Bittet um einen Gefallen. Das ist meistens ein kleiner gefallen. Sobald dieser Gefallen erwidert wird, zeige ich, dass ich ein Verkäufer bin und bitte um einen größeren Gefallen. Dieser größere Gefallen besteht in den meisten Fällen aus Geld. Das sieht man leider heute immer noch sehr, sehr häufig. Negativbeispiele dafür sind meist gemeinnützige Organisationen und NGOs, die in Fußgängerzonen ihre Zelte aufschlagen und Passanten ansprechen.

Zum Beispiel mit der Frage, „Mögen Sie Tiere? Liegt Ihnen das Wohl von Tieren am Herzen?“ Ja, natürlich, wem nicht. Also außer, man ist vielleicht ein Metzger oder so. Die meisten Leute werden jedoch ins Zelt gebracht und gebeten, eine Petition zu unterschreiben. Zum Beispiel keine Ahnung gegen Käfighaltung von Hühnern oder sowas. Etwas, wo man sagt, dass es eine gute Idee ist. Da gebe ich gerne meine Unterschrift dafür her, dass so etwas gestoppt wird. Und sobald das stattfindet, diese Petition unterschrieben ist, dann kommt der wahre Verkäufer eigentlich dahinter. Man bittet um eine großzügige Spende, am besten im Abonnement, also als monatliche Subscription.

Das ist ein Beispiel, wie aus einem kleinen Gefallen oder einer kleinen Frage ein größerer Gefallen entsteht. Und das Gemeine an der ganzen Sache wurde in der Wissenschaft gut untersucht, zum Beispiel von Freedman und Fraser. Die Arbeit heißt „Compliance without Pressure„. Da sieht man, dass die Menschen, die am Ende sich für diesen großen Gefallen halt, dann auch breitschlagen lassen, das eigentlich gar nicht wollten und eigentlich auch nicht gemacht hätten, wäre nicht dieser kleine Gefallen im Vorhinein halt eben, hätte der nicht stattgefunden. Und das ist dann etwas, wo Menschen auch wirklich einfach manipuliert werden.

Und gerade sage ich mal auch ältere Menschen, die kommen da auch nicht mehr raus. Die entdecken das nicht, die kommen da nicht raus, und die werden dann halt quasi in so eine Abo-Falle reinlaufen. Auch wenn der Zweck möglicherweise positiv und lobenswert ist, wird es durch solche Handlungen zu einem Manipulationsversuch, einer Art Betrug, aus meiner Sicht. Es ist ein Beispiel dafür, wie solches Verhalten aufgezwungen wird oder wie durch Strategie und List etwas aus meiner Sicht Unmoralisches geschieht. Wie sehen Sie das? Kann man so etwas, überhaupt so eine Strategie, so eine List, überhaupt ethisch vertreten, Herr Rieck?

Prof. Dr. Christian Rieck: Das ist der Teil, der mich am Anfang für die Strategie am stärksten abgeschreckt hat – diese Morallosigkeit, die dahintersteht. Also, man hat ja oft das Gefühl im echten Leben, dass man eigentlich mit den anderen eher kooperativ zusammenarbeiten will und gerade nicht über in Tisch sieht und so weiter. Und die Strategien sind ja gerade so aufgebaut, dass sie das Gegenteil machen. Sie übertölpeln den anderen, Sie wollen ja, dass die anderen eine Falle reinläuft, die für den anderen schlecht ist, für Sie gut. Deshalb sind diese Strategien von ihrer Natur her unmoralisch. Das muss man verstehen. Das ist nichts, was Sie für eine langfristige Beziehung oder sowas verwenden können. Wenn Sie das ein paar mal machen, dann, werden die anderen nichts mit Ihnen zu tun haben wollen.

Und wie gesagt, das ist der Punkt, worüber ich am Anfang auch eher misstrauisch diesen Strategien gegenüber eingestellt war. Ich hab die so lange Zeit auch abgelehnt. Ich habe gesagt, das ist unmoralisch, das will ich überhaupt gar nicht. Aber irgendwann ist mir aufgefallen, im Moment mal, das ist ja für beide Seiten verwendbar. Das ist ja nicht nur für die Dinge wendbar, die das anwenden wollen, sondern ist verdammt gut beraten zu verstehen, dass es diese Art von List gibt, um sich überhaupt dagegen zu Wehr setzen zu können. Und das war eigentlich so ein bisschen der Punkt, der mir dann auch Zugang dazu verschafft hat, dass ich gesagt habe, wir müssen das als Abwehrmethoden einsetzen, dass wir das erkennen, wenn das gerade einer mit uns macht.

Pritu Daniel Detemple: Okay, Moment Moment. Sie sagen, dass eine Strategie an sich unmoralisch ist. und ich gehe damit. Aber lassen Sie mich mal kurz advocatus diaboli sein und versuchen, die andere Seite zu beleuchten. Weil diejenigen, die Strategien anwenden, sei es im Krieg, in der Erziehung, in der Politik oder insbesondere im Marketing und Vertrieb, würden Ihnen vermutlich widersprechen. Wenn ich das mal antizipieren darf, die Argumentation der List Befürworter ist, dass sie das doch fürs Gute einsetzen.

Manche Menschen müssen zu ihrem Glück gezwungen werden. In diesem NGO-Beispiel sammelt man am Ende Geld für Tiere, was eine gute Sache ist. Es geht nicht nur um eine Unterschrift gegen Käfighaltung, sondern auch um eine finanzielle Unterstützung. Manche Menschen brauchen einen Schubs und müssen überzeugt werden, damit sie letztendlich zu ihrem Glück gezwungen werden. Wenn jemand am Ende des Tages ein besseres Produkt XYZ anstatt ABC nutzt, ist das vorteilhafter für die Person, und das habe ich mit meiner List erreicht. Also wo ist da das Problem? Wie schätzen Sie das ein?

Prof. Dr. Christian Rieck: Aber in aller Regel ist es Selbstbetrug. Also gucken Sie sich mal an: Die schlimmsten Sachen, die in der Welt passiert sind, sind nicht passiert, weil jemand morgens irgendwie aufgewacht ist und gesagt hat: „Heute bin ich mal so richtig böse“. Sondern die sind dadurch passiert, dass jemand irgendwie morgens aufgewacht ist und gesagt hat: „Heute bin ich mal so richtig guter“. Dass einer aufgewacht ist und gesagt hat: „Naja, schade, dass ein paar Millionen Menschen sterben müssen, aber danach wird die Welt besser, und deshalb lohnt sich das.“

Also ein Spruch, der im Grunde genommen von so vielen gemacht wurde, vielleicht nicht in der vollkommen Brutalität, aber ziemlich nahe dran. Sie können mit dem Wunsch nach dem guten das Allerschlimmste rechtfertigen, und es wird immer Betrug sein. Deshalb lasse ich mich auf diese Argumentation nicht ein. Wenn der andere nicht erkennt, dass etwas für ihn gut ist, dann ist es nicht für ihn gut.

Pritu Daniel Detemple: Ja, gehen wir mal auf das Betriebswirtschaftliche, also komplett auf die Fakten ein. Wenn ich eine List aus Vertriebsperspektive einsetze, ist es in diesem Moment betriebswirtschaftlich gesehen gut. Die List führt dazu, dass mehr Menschen kaufen, was positiv für das Unternehmen ist. Auch für den Vertriebler ist es vorteilhaft, da oft noch Provisionen im Vertrieb üblich sind. Die Person kann davon profitieren. Falls die List auffliegt, ist der Vertriebler/Vertrieblerin wahrscheinlich schon im nächsten Unternehmen tätig. Also, es fällt dann auch nicht auf die Füße. Also erst mal so betriebswirtschaftlich, unabhängig von der Moral und von der Ethik ist es doch erst mal positiv, oder?

Prof. Dr. Christian Rieck: Sie müssen beim Vertrieb, glaube ich, zwischen zwei Sachen unterscheiden. Das ist ein bisschen ähnlich wie wenn Sie Laufkundschaft oder Stammkundschaft haben. Wenn Sie an einer Stelle sind, wo Sie fast nur Laufkundschaft haben, sind Sie eigentlich fast dazu gezwungen, mehr oder weniger eine List anzuwenden und den anderen über den Tisch zu ziehen. Also nehmen Sie einfach an, Sie haben ein Hotel an irgendeiner Straße in Amerika, wo lauter verschiedene Leute vorbeikommen, und kaum einer kommt zwar mal vorbei. Dann müssen Sie dafür sorgen, dass es von außen her toll aussieht, und Sie müssen alles, was hier in Investitionen tätigen, darauf bringen, dass es von außen her attraktiv ist. Und wenn die Leute in Zimmer drin sind, dann können die so lausig sein, wie Sie wollen, und abends können die sowieso nicht mehr weggehen.

Das ist aber natürlich eine ganz andere Situation, als wenn Sie Stammkundschaft haben wollen, und Sie können das auch sehen. Sie können beispielsweise sehen, dass wenn Sie an einem Ort mit Laufkundschaft sind, Sie im Grunde genommen Touristen-Nepp haben, wie es ja auch heißt. Daher kommt ja auch dieser Touristen-Nepp, dass das etwas vollkommen anderes ist, als wenn Sie ein Stammlokal irgendwo, irgendeinem Stadtbezirk oder sowas drin haben,wo eben die Einheimischen immer wieder hingehen.

Und Sie sehen, diese unterschiedlichen Strategien wären auch tatsächlich angewandt. Und das Problem taucht aber auf, wenn jemand eine Stammkneipe führen möchte und auf einmal die Tricks anwendet, die für Laufkundschaft gut wären. Dann hat er nämlich kurzfristigen Erfolg und auch kurzfristig das Gefühl, dass er alles richtig gemacht hat. Aber langfristig ist aus dem Geschäft draußen, und das ist, glaube ich, schon eine Sache, die man beim Vertrieb bedenken muss.

Also wenn eine Vertriebsmannschaft hat, die bleiben alle nur ein Jahr lang da, danach hauen Sie wieder ab. Dann ist klar, verliert man im Grunde genommen auch seine besten Kunden, weil die eine ganz andere Interessenslage haben. Und das Gemeine dabei ist, dass Sie, während Sie die Reputation abbauen, immer das Gefühl haben, alles richtig zu machen. Also wenn Sie auf alle Metriken gucken, sagt Ihnen, jede Metrik ist ja super. Sie verdienen mehr und alles ist ganz toll, aber Nichtsdestotrotz auf lange Sicht hinweg verschwindet Ihr Vorteil.

Nachhaltigkeit im Vertrieb: Warum ist ihre Umsetzung so herausfordernd?

Pritu Daniel Detemple: Okay, da kommen wir jetzt auch zu einem Punkt, auf den ich genau explizit eingehen möchte. Nämlich das Thema Nachhaltigkeit im Vertrieb. Nachhaltigkeit ist jetzt so ein bisschen Buzzword und wird sehr inflationär benutzt. Und leider auch in vielen Greenwashing-Kampagnen missbraucht. Nichtsdestotrotz finde ich immer noch ein treffender Begriff. Was verstehen wir darunter? Wir verstehen im Vertrieb darunter, dass wir Kundenbeziehungen und die verbundene Reputation nicht abbauen mit mangelnder Qualität oder durch mangelnde Qualität.

Wir möchten aus der Beziehung kein Kapital schlagen, das dazu führt, dass die Beziehung abgebaut wird. Also wir möchten die Beziehung erhalten zu unseren Kunden. Das bedeutet in der Konsequenz, dass man auch mal auf den schnellen Euro verzichten muss. Und mal bereit ist, nicht zu verkaufen, wenn der Kunde keinen Nutzen aus dem Produkt oder der Leistung ziehen wird. Dann muss man auch sagen: „Stopp“, oder muss man die Möglichkeit haben zu sagen „Mache ich nicht!“. Also ich mache jetzt keinen – und im Begriff, dann habe ich von Ihnen gelernt, kein Reputation Mining. Ja, ich baue jetzt nicht meine Reputation ab auf Grundlage, um Geld zu verdienen. Und das verhält sich dann halt sehr ähnlich wie bei der nachhaltigen Forstwirtschaft. Dennoch ist es anscheinend nicht einfach, das umzusetzen. Woran liegt das genau?

Prof. Dr. Christian Rieck: Also, der Nachhaltigkeitsbegriff ist ja in seiner Kernstruktur eine ganz einfache Überlegung. Sie können aus einem System nicht mehr rausziehen, als Sie reinstecken. Also, Sie stecken in den Wald ja nicht wirklich aktiv was rein, sondern das wächst sozusagen von alleine, und da können eben nicht mehr entnehmen. Das heißt also, wenn Sie ein solches System haben, dann ist das eine logische Notwendigkeit und diese überhaupt gar nicht herumkommen.

Also, das ist nichts, worüber man diskutieren muss, sondern das ist einfach eine logische Notwendigkeit. Wenn Sie dauerhaft mehr entnehmen als dazukommt, ist halt irgendwann leer. So einfach ist das und das waren ja auch die Fälle, die wir eben hatten. Jetzt müssen wir uns fragen, wieso ist denn etwas, was so elementar ist, nicht offensichtlich? Also, wieso brauchen wir da erst irgendeinen, der ein Buch darüber schreibt, und dann weiß ich auch, ein paar Jahrhunderte später finden alle ganz toll und fahren voll auf diesen Begriff ab. Was ist denn da so seltsam dran? Und so seltsam ist, dass es ein Wald, was anderes ist als im Gemüsebeet.

Im Gemüsebeet ist der Zusammenhang zwischen Reinstecken und Rausholen so zeitnah, dass Sie das unmittelbar verstehen. Also, Sie kommen gar nicht erst auf die Gedanken, Ihre Radieschen hier nicht nachhaltig in diesem Sinne anzubauen. Weil Sie genau wissen, wenn Sie mehrere Radieschen ernten wollen, als Sie also eingesetzt haben ist halt nicht, geht nicht. Punk. Sehen Sie sofort. Weil da nur wenige Wochen bis maximal Monate dazwischen liegen.

Beim Wald ist das aber anders. Beim Wald ist es so, dass da Jahre dazwischenliegen, Jahrzehnte, und durch diese Zeitversetz Setzung, die Sie dort haben, merken Sie dieses einfache Prinzip nicht mehr. Es gilt natürlich nach wie vor nur, Sie merken es nicht, weil ja auch nicht für jeden Baum, den Sie abschlagen, irgendwann andere sofort neu nachwächst, sondern die ganzen vielen anderen Bäumen werden alle ein ganz kleines Bisschen dicker. Das heißt, Sie merken nicht diesen Zusammenhang zwischen Entnehmen und Nachwachsen. Und was Sie jetzt machen können, ist natürlich, dass Sie einfach sagen, naja, wenn ich den Zusammenhang nicht merke als Förster, dann, werden die anderen erst recht nicht merken. Und jetzt können Sie mehr entnehmen als nachwächst. Das wird über Jahre hinweg kein Mensch bemerken und Sie sind reicher.

Das ist genau die Situation, die wir eben hatten. Die Ratingagentur, die einfach sagt, bauen wir mal ein bisschen unsere Reputation ab, macht genau das gleiche. Sie bereichert sich jetzt als derjenige, das Machtbereich hat, sich jetzt zu Lasten zukünftiger Möglichkeiten, die man damit noch hat. Genau das gleiche haben Sie auch in dieser Situation. Es gibt einen wundervollen, spielerischen Begriff dafür. „Moral Hazard“ – der taucht immer dann auf, wenn derjenige, der die Entscheidungen trifft, nicht beobachtet werden kann von den anderen oder wenn die die Entscheidungen nicht beurteilen können, beispielsweise.

Dann taucht dieses Moral Hazard auf, dass man einfach sagt, die anderen ähnlich beobachten können, ob das gut ist oder schlecht, was ich gerade mache, da mache ich halt das, was für mich gut ist, und nichts, das, was für die anderen gut ist. Das ist die Idee, die dahinter ist, und deshalb ist dieser Begriff der Nachhaltigkeit überhaupt erst mal wichtig geworden oder ist in bestimmten Systemen schwer erkennbar.

Der Moral Hazard im Vertrieb

Pritu Daniel Detemple: Können Sie das auf den Vertrieb vielleicht nochmal genauer münzen? Wie wirkt sich denn dieser Moral Hazard auf den Vertrieb genau aus?

Prof. Dr. Christian Rieck: Na ja, das ist ja genau der Anreiz – Konflikt, den Sie hier haben. Also der eine, beispielsweise der Inhaber von so einem Laden, der hat Interesse daran, dass das Ding noch jahrelang bestehen bleibt. Aber der einzelne Vertriebler, wenn der das Gefühl hat, er kann schnell wechseln von einem zum anderen hüpfen, dann hat er immer den Anreiz möglich, viel zu entnehmen.

Das heißt also, der, der schnelle Wechsel vom Vertrieb würde sicherlich dazu führen, dass er genau das Macht wie der Förster kurz vom Ruhestand in dem Beispiel, was wir vorhin hatten. Er würde einfach mehr entnehmen, als nachhaltig ist in der einen Situation, und davon hat ihr selber ja tatsächlich ein Vorteil. Und das Problem ist, wenn Sie von außen her nicht beobachten oder nachweisen können, dann stehen Sie immer genau vor diesem Schlamassel, und da müssen sich in der Tat Gedanken machen, wie Sie denn hier die Interessen des Vertriebs in Übereinstimmung bringen mit den Interessen des Auftraggebers, also beispielsweise des Unternehmensinhabers.

Pritu Daniel Detemple: Und wie sehen Sie das? Ist jeder Mensch von Haus aus für den Moral Hazard anfällig?

Prof. Dr. Christian Rieck: Wenn Sie selber die Möglichkeit haben, Moral Hazard zu begehen, ist die Chance verdammt groß, dass Sie es auch tun werden. Und wie gesagt, wenn man selbst noch mal merkt, in einer solchen Situation, das ist jetzt eigentlich nicht so ganz richtig OK, dann findet man für sich selbst irgendwelche komischen Rationalisierung, die dann sagen: “ ja, ja, doch doch, und wenn ich es nicht mache, macht es wer anders, und eigentlich will der das ja auch, und ich zwinge ihn zum Glück…“.

Und das ist dann aber eigentlich nur so eine Sache, weil man eben nicht so gerne als derjenige dasteht, auch wo sich selber nicht, denn der eben einfach unmoralisch gehandelt hat. Aber nichtsdestotrotz, wenn Sie Moral Hazard begehen, handeln Sie natürlich in irgendeiner Form unmoralisch, und da müssen Sie für sich selber dann einfach gewissermaßen nur noch Wege finden, wie Sie da rauskommen. Für sich. Aber der andere muss eigentlich – der Auftraggeber – muss den Weg finden, wie er dafür sorgt, dass möglichst kein Moral Hazard vorliegt. Er muss Wege finden zu versuchen, dass die Interessen der beiden Parteien stärker in Übereinstimmung miteinander sind, was manchmal gar nicht so einfach ist.

Pritu Daniel Detemple: Ja, da gebe ich Ihnen Recht. Daher ist es ja auch so wirklich wichtig. Dann kommen wir wieder auf den anfänglichen Begriff zurück. Unternehmer und Unternehmerinnen investieren Zeit und Mühe in die Entwicklung der richtigen Strategie. Wie Sie bereits betont haben, ist dies keineswegs trivial. Auch wenn eine Strategie immer eine vereinfachte und unvollständige Darstellung ist, ist es dennoch eine schwierige Aufgabe. Insbesondere wenn wir das Ergebnis betrachten, das spieltheoretisch als Auszahlung bezeichnet wird (nicht unbedingt finanziell, sondern eher das Ergebnis oder der Effekt), treten viele Fehler auf. Können Sie da ein bisschen was erklären? Welche Fehler werden denn da genau gemacht?

Prof. Dr. Christian Rieck: Also sehr oft wird in solchen Situationen der Fehler gemacht, dass man letztlich einen Wunschausgang hinstellt und einfach sagt, so wollen wir, dass es sei. Und so ist es natürlich nicht. Denn wenn die einzelnen Spiele ein Interesse haben, es anders zu machen, dann wird das nicht rauskommen, und das hilft schon mal sehr stark, sich zu überlegen, was ist denn jetzt eigentlich das, was überhaupt rauskommen kann?

Also ich weiß nicht, ob Sie das Video die von mir gesehen haben. Das habe ich vor längerer Zeit mal gemacht, – das Beschäftigen mit dem Tafelwischen an der Uni.Einige Leute legen großen Wert darauf, dass die Tafel im Hörsaal gewischt ist, wenn sie ihn betreten. Und das ist eine Wunschvorstellung. Die Interessenslage der einzelnen Beteiligten ist nicht in der Richtung, weil derjenige, der in der Tafel beschrieben hat, überhaupt kein Interesse daran hat, die Tafel zu wischen. Warum sollte er denn? Also er hat ja für ihn nur Nachteile, weil er Arbeit hat, und es hat wahrscheinlich sogar für die anderen Anwesenden auch Nachteile, weil die nicht mehr in der Pause abschreiben könnten oder sowas. Also Quatsch, derjenige, der die Tafel beschreibt, hat einfach kein Interesse, die Tafel zu wischen. Und jetzt gibt es zwei Möglichkeiten.

Die eine Möglichkeit ist, man versucht, immer mehr Energie aufzuwenden, die Leute dazu zu bringen, das zu tun, was Sie nicht wollen. Das kann man versuchen, aber man wird erstens scheitern. Und zweitens ein Haufen Energie verschwenden, weil am Ende sich doch wieder keiner dran hält. Aber jetzt will man unbedingt, dass die eine Gruppe die Tafel wischt. Und wie gesagt, Sie können jetzt sehr viel Energie aufwenden, Sie böses Blut erzeugen. Sie können sich mit den Kollegen herumstreichen, Sie können alle möglichen Sachen dieser Art machen. Und sie werden dazu führen, dass vielleicht ein bisschen mehr Tafeln danach gewischt werden, aber immer noch nicht alle, und Sie verwenden eigentlich Energie für nichts.

Denn es gibt andere Leute, die haben ein Interesse, die Tafel zu wischen. Das sind diejenigen, die Sie benutzen wollen. Wenn Sie also die einfache Regel etablieren, dass jeder die Tafel vor der Nutzung wischt bevor sie/er benutzt, verschwindet das gesamte Problem. Und derjenige, der die Tafel braucht, wischt sie, weil er einen Anreiz dazu hat. So einfach ist das, und auf einmal gibt es kein böses Blut mehr. Auf einmal wird nur noch an den Stellen gearbeitet, wo man es auch wirklich braucht, und schon ist die ganze Welt in Ordnung.

Das ist für meine Begriffe ein Musterbeispiel dafür, dass man manchmal durch eine einfache, ganz geringfügige Umgestaltung auf einmal einen viel besseren Zustand erreichen kann. Wieso erreicht man ihn doch nur deshalb, wenn man sich fragt, ja, was sind denn die Interessen der Leute, und was ist stabil? Und wenn man von den Leuten das will, was Sie selbst nicht wollen, kann man es vergessen. Das werden sie nicht tun, und sie werden ihre ganze Kreativität darauf verwenden, den immer auszuweichen.

Pritu Daniel Detemple: Aber, Herr Rieck man kann doch nicht immer nur in den Interessen der Beteiligten denken. Es muss auch Regeln geben, die für Ordnung sorgen, oder?

Prof Dr. Christian Rieck: Also, es mag Fälle geben, in denen es sinnvoll ist, solche Regeln zu erlassen. Ich glaube, dass die Regel, sich nicht gegenseitig über den Haufen zu schießen, relativ sinnvoll ist. Es ist auch sinnvoll, etwas dagegen zu unternehmen, wenn es Leute gibt, die sagen: „Ich will jetzt gerade mal.“ Also, da ist wahrscheinlich sinnvoll, auch einen relativ großen Aufwand zu treiben, dass das nicht passiert.

Aber in sehr vielen anderen Fällen ist das eben nicht so. Und da muss man sich häufig auch mal fragen, ob man nicht gerade versucht, eine Regel zu etablieren, die an sich fehlerhaft ist. Also wo die Regel selber, die Absicht, die dahinter steht, vielleicht eine ist, die eben nur einem selber in die Taschen spielt, und nicht anderen. Das sind solche Punkte, wo man da durch die Hintertür, glaube ich, mit der Spieltheorie sehr viel anfangen kann, indem man beispielsweise einfach mal sich nur dieses Gleichgewichtskonzept anguckt.

Pritu Daniel Detemple: Prof. Dr. Rieck, ich danke Ihnen ganz herzlich für das sehr sympathische und anschauliche Gespräch. Vielen dank.

Prof Dr. Christian Rieck: Ja, ich danke Ihnen, also ich fand es auch sehr interessante Unterhaltung, die wir gehabt haben. Dankeschön!

Pritu Daniel Detemple: Wenn du jetzt neugierig geworden bist, verlinken wir dir natürlich den YouTube Kanal von Prof. Dr. Christian Rieck in den Shownotes. Geh da auf jeden Fall drauf, weil ich kenne kein Content-Format, das so kompakt vielfältiges Wissen transportiert. Also auf jeden Fall sehenswert und hat auch ein Entertainment Charakter. Also geh auf jeden Fall darauf!

Ansonsten, wir hören uns nächsten Dienstag wieder. Da geht es um das Thema „Angst im Vertrieb„. Es ist ein fast tabuisiertes Thema, daher freue ich mich, dass mein Gast offen damit umgeht und Möglichkeiten aufzeigt, wie man diese Angst überwinden kann. Wenn dir dieser Podcast gefällt, würden wir uns natürlich freuen, wenn du ihm folgst, um keine Folge mehr zu verpassen.. Und natürlich, wenn du über eine Plattform diesen Podcast anhörst, wo man bewerten kann, freuen wir uns über eine Rezession. Denn die Hilfen natürlich dem Kanal, bekannter zu werden, und gibt uns auch eine Form von Wertschätzung, über die wir uns natürlich einfach freuen und die uns motiviert. Bis dahin wünsche ich dir viel vertrieblichen Erfolg. Dein Pritu, von von GO FOR SALES.

Hier ist der Link zur nächsten Folge „Mut im Vertrieb„: https://go-for-sales.com/podcast/folge-25-mut-im-vertrieb-wie-man-angst-ueberwindet-und-erfolg-findet/